CHRISTOPH SAURER | ||||||||
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LESEPROBE: DER KEIM DER SEELE, Seite 28 bis 30 | ||||||||
In der eintretenden Stille musterte Benjamin aufmerksam seine Großmutter, denn jede Gebärde in ihrem faltigen Gesicht erzählte eine Geschichte und setzte den Projektionen ihrer Seelenbilder neue Schattierungen hinzu. Ihre Stimme klang nun kehlig und überirdisch: »Wir sehen die Welt um uns herum, wir riechen, schmecken, fühlen und hören. Auf diese Weise entwickeln wir letztlich unser Bewusstsein, das ja seit Urzeiten nach Antworten auf all jene grundlegenden Fragen sucht, die uns am Ende das Rätsel des Lebens begreifen lassen. Dieser Lebensmythos, der erklären will, warum das Leben so ist, wie es ist, faszinierte mich und deinen Großvater immer wieder. Doch nachdem mich Großvater geheiratet hatte, habe ich mich bis zu seinem Tod mehr für das Leben, so wie es uns tagtäglich begegnet, interessiert: für die Blumen im Garten, die Tiere und vor allem die Kinder, die geboren werden und heranwachsen, denn durch Schwangerschaft und Geburt beginnt ja auch das Leben.« Ein großer, hagerer Mann, der sein langes, silbernes Haar gebunden trug, war zu ihnen getreten. Es war Amadeus, der Hauslehrer, welcher meist in einem so weiten Umhang steckte, dass man den Eindruck hatte, er wolle sich darin verbergen. Benjamin fesselten seine dichten Augenbrauen und sein klarer, sorglicher Blick. Selten las man ein Zeichen des Unmuts in seinem Gesicht, und seine geheimnisvolle, sonderbare Art, sein Scharfsinn und seine stillen Gebärden hinterließen stets einen bleibenden Eindruck. Neben seiner Lehrtätigkeit verarbeitete Amadeus Kräuter, züchtete Tauben und baute gelegentlich Automaten, die sich selbst bewegen konnten und wie lebend wirkten. Auch arbeitete er an einem Uhrwerk, um astronomische Gegebenheiten mit größtmöglicher Genauigkeit darstellen zu können. Schon zu seinen Lebzeiten war der Großvater ein mysteriöser Mann gewesen, der im Zentrum geheimnisumwitterter Zeremonien und Riten stand. Sein starkes Engagement im geheimen Bund der Freimaurer hatte dazu geführt, dass sein Haus ein gesellschaftlicher Mittelpunkt für Logenbrüder, meist Künstler, Dichter und Gebildete aus der Umgebung und der nahen Stadt, war. Die Bruderschaft strebte die soziale Gleichheit der Menschen an, und man fand sich in der Loge über alle trennenden gesellschaftlichen Schranken hinweg als Mensch unter Menschen zusammen. Doch im Wesentlichen war man auf den Einzelnen ausgerichtet und bemüht, ihn an die Grundfrage des Seins heranzuführen. In diesen Kreisen ist dann auch die eigentümliche Idee entstanden, auf dem Gut einen von antiken Sagen durchwobenen Landschaftsgarten anlegen zu lassen.
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Roman: Der Keim der Seele
Hardcover, 220 Seiten
Erschienen: November 2003 Books on Demand ISBN: 3-0344-0229-5 |
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