CHRISTOPH SAURER  
LESEPROBE: DER KEIM DER SEELE, Seite 28 bis 30

In der eintretenden Stille musterte Benjamin aufmerksam seine Großmutter, denn jede Gebärde in ihrem faltigen Gesicht erzählte eine Geschichte und setzte den Projektionen ihrer Seelenbilder neue Schattierungen hinzu. Ihre Stimme klang nun kehlig und überirdisch: »Wir sehen die Welt um uns herum, wir riechen, schmecken, fühlen und hören. Auf diese Weise entwickeln wir letztlich unser Bewusstsein, das ja seit Urzeiten nach Antworten auf all jene grundlegenden Fragen sucht, die uns am Ende das Rätsel des Lebens begreifen lassen. Dieser Lebensmythos, der erklären will, warum das Leben so ist, wie es ist, faszinierte mich und deinen Großvater immer wieder. Doch nachdem mich Großvater geheiratet hatte, habe ich mich bis zu seinem Tod mehr für das Leben, so wie es uns tagtäglich begegnet, interessiert: für die Blumen im Garten, die Tiere und vor allem die Kinder, die geboren werden und heranwachsen, denn durch Schwangerschaft und Geburt beginnt ja auch das Leben.«

Ein großer, hagerer Mann, der sein langes, silbernes Haar gebunden trug, war zu ihnen getreten. Es war Amadeus, der Hauslehrer, welcher meist in einem so weiten Umhang steckte, dass man den Eindruck hatte, er wolle sich darin verbergen. Benjamin fesselten seine dichten Augenbrauen und sein klarer, sorglicher Blick. Selten las man ein Zeichen des Unmuts in seinem Gesicht, und seine geheimnisvolle, sonderbare Art, sein Scharfsinn und seine stillen Gebärden hinterließen stets einen bleibenden Eindruck. Neben seiner Lehrtätigkeit verarbeitete Amadeus Kräuter, züchtete Tauben und baute gelegentlich Automaten, die sich selbst bewegen konnten und wie lebend wirkten. Auch arbeitete er an einem Uhrwerk, um astronomische Gegebenheiten mit größtmöglicher Genauigkeit darstellen zu können.
       »Ah, da bist du ja, Amadeus«, begrüßte ihn Benjamins Großmutter. »Wir sprachen gerade von Liebschaften und Mythen.«
      Amadeus lächelte ihr freundlich einen Gruß zu.
      »Dein Großvater liebte Mythen und Sagen über alles«, sagte er zu Benjamin, »vor allem die der Griechen. Denn die griechischen Götter liebten und stritten wie die Menschen.«
      »Nächtelang hatte Großvater ihre unzähligen Dichtungen gelesen und sich mit seinen kunstverständigen Freunden, den Malern, Bildhauern und Dichtern, über ihre Götter und Helden unterhalten«, ergänzte die Großmutter mit sanftmütiger Miene. »Er wollte diesen Lebensmythos der Griechen in seinem Landschaftsgarten aufleben lassen.«

Schon zu seinen Lebzeiten war der Großvater ein mysteriöser Mann gewesen, der im Zentrum geheimnisumwitterter Zeremonien und Riten stand. Sein starkes Engagement im geheimen Bund der Freimaurer hatte dazu geführt, dass sein Haus ein gesellschaftlicher Mittelpunkt für Logenbrüder, meist Künstler, Dichter und Gebildete aus der Umgebung und der nahen Stadt, war. Die Bruderschaft strebte die soziale Gleichheit der Menschen an, und man fand sich in der Loge über alle trennenden gesellschaftlichen Schranken hinweg als Mensch unter Menschen zusammen. Doch im Wesentlichen war man auf den Einzelnen ausgerichtet und bemüht, ihn an die Grundfrage des Seins heranzuführen. In diesen Kreisen ist dann auch die eigentümliche Idee entstanden, auf dem Gut einen von antiken Sagen durchwobenen Landschaftsgarten anlegen zu lassen.
      Begeistert hatte Amadeus, damals als frischer Freimaurer, an der Planung dieses nicht alltäglichen Vorhabens teilgenommen und hatte Benjamins Großvater bei der Verwirklichung seiner Idee tatkräftig zur Seite gestanden. Man wollte auf dem Gut eine den Zusammenkünften zugrunde liegende Erlebniswelt schaffen, die schwer mitzuteilen war und die eigentlich jeder nur selbst erfahren konnte.
      Als Benjamins Großvater plötzlich verstarb und die Fertigstellung des Landschaftsgartens gefährdet zu sein schien, hatte sich Amadeus dafür eingesetzt, dass dieses Projekt zu Ende geführt wurde.
     »Träume verlangen Taten«, hatte er damals gesagt. »Wir müssen unsere Träume im festen Grund verankern, sonst treiben wir mit ihnen nur so dahin.«
      Benjamins Großmutter, nun eine reiche Witwe, stimmte ihm zu und widmete sich ganz der Aufgabe, die Idee ihres verstorbenen Mannes zu vollenden. So ließen sie mit vereinten Kräften eine Landschaft mit Mythen und Legenden entstehen, in der sich letztendlich alles um das große Geheimnis von Leben und Tod zu drehen schien.

Copyright © 2006 by Christoph Saurer. Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung: Christoph Saurer, Bangkok
Technische Umsetzung: Mongkon Klatpetch, Bangkok
Foto: Christoph Saurer
Zeichnungen und Stiche: Denkmalpflege Baselland (CH)
Roman: Der Keim der Seele Hardcover, 220 Seiten
Erschienen: November 2003
Books on Demand
ISBN: 3-0344-0229-5

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Foto Poträt / Ausstellung:
Artjana Saurer / Oliver von Känel